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Sollte so etwas Profanes wie Essen bei einer so schwerwiegenden und einschränkenden Krankheit wie Migräne tatsächlich helfen? In diesem Artikel erfährst du, was der Blutzuckerspiegel mit Migräne zu tun hat und warum es durchaus Sinn ergibt, dass eine gut ausgewählte Ernährung bei Migräne oder chronischen Kopfschmerzen hilft.
Sicht der Schulmedizin: Was hilft gegen Migräne?
Migräne zählt augenscheinlich nicht zu den ernährungsbedingten Krankheiten. Bei Diabetes mellitus ist klar, dass man über das richtige Essen die Krankheit positiv beeinflussen kann. Einen Einfluss der Ernährung auf die Migräne schließt die Schulmedizin weitestgehend aus.
In den ärztlichen Leitlinien zur Therapie der Migräne1DGN, Leitlinien „Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne“, 2018 findet sich im Abschnitt „Verfahren ohne (bisherigen) Wirksamkeitsnachweis“ die Ernährung als Unterpunkt „Alimentäre Diäten“. Im selben Kapitel wird allerdings eine Studie zitiert, die signifikante Verbesserungen einer Eliminationsdiät zeigt.
Wenn Neurologen oder Schmerzärzte Migräne-Betroffenen Ernährungstipps geben, dann dahin gehend, bestimmte Lebensmittel (Stichworte Histamin und Trigger) zu meiden und regelmäßig zu essen.
Warum es zu kurz gegriffen ist, sich nur auf ausgewählte Lebensmittel zu konzentrieren, und warum die Ernährung auch bei Migräne eine echte Therapieoption ist, erfährst du in den folgenden Kapiteln.
Ernährung als echte Therapieoption
Migräne ist eine Krankheit, die schulmedizinisch schwierig zu behandeln ist. Akutmedikamente wie Triptane helfen nicht oder haben starke Nebenwirkungen. Betroffene mit vielen Schmerztagen können die ärztlicherseits empfohlenen 10 Medikamententage nicht einhalten.
Der Schmerzmediziner Prof. Dr. Sven Gottschling vom Universitätsklinikum des Saarlandes empfiehlt sogar, wegen der langfristig zu erwarteten Nebenwirkungen, nur eine maximale Anzahl von 5 Tagen, an denen Schmerzmedikamente genommen werden sollten.2Dr. Sven Gottschling „Schmerz los werden“, Fischerverlag, 2020
Bei chronischer Migräne werden oft Prophylaxe-Medikamente verschrieben. Ein Prophylaxe-Medikament gilt bereits als erfolgreich, wenn es die Kopfschmerzattacken um 50% reduziert.
Macht man sich das bewusst, dann bleibt die Frage, warum noch immer die Ernährung (fast) keine Rolle in der Behandlung der Migräne bzw. als Vorbeugung gegen Migräneattacken spielt.
Neueste Erkenntnisse zum Einfluss der Ernährung auf Migräne werden weitestgehend ignoriert. Auch wenn es abgedroschen klingt: „Du bist, was du isst!“ Jedes Stück Haut, jede Gehirnzelle, sogar alle Hormone und Neurotransmitter werden aus dem gebaut, was wir essen und verdauen.
Hormone und Neurotransmitter haben einen immensen Einfluss auf unsere Gefühle, unser Wohlbefinden und unser (Schlaf-) Verhalten. Wenn man sich dies bewusst macht, dann ist es nur folgerichtig, die Ernährung in die Therapie ALLER Krankheiten miteinzubeziehen.
Mittlerweile gibt es immer mehr Studien, die darauf hinweisen, dass Migräne mit dem Blutzuckerspiegel, dem Stoffwechsel und/oder mit einem Energiedefizit im Gehirn zusammenhängt.
Migräne – Energiemangel im Kopf?
Neueste Studien zeigen, dass es sich bei Migräne unter anderem um ein temporäres Energiedefizit im Gehirn handelt.3Gross E et al. The metabolic face of migraine – from pathophysiology to treatment Nat Rev Neurol. 2019 Es wird also mehr Energie benötigt als zur Verfügung steht.
Darüber hinaus legt eine Untersuchung von 20054Rainero, I. et al. Insulin sensitivity is impaired in patients with migraine. Cephalalgia, 2005, volume 25 – issue 8 nahe, dass Migräniker ein Stoffwechselproblem mit „schnellen“ Kohlenhydraten haben. „Schnelle“ Kohlenhydrate, also kohlenhydrathaltige Nahrungsmittel mit einem hohen glykämischen Index lassen den Blutzuckerspiegel schnell ansteigen.
Wenn wir Kohlenhydrate zu uns nehmen, dann brauchen wir das Hormon Insulin. Insulin sorgt dafür, dass der Zucker bzw. die Glukose, also die in kleine Teilchen aufgespaltenen Kohlenhydrate, in die Zellen geschafft werden. Der Blutzuckerspiegel wird gesenkt.
Migränebetroffene verfügen oft über eine schlechtere Glukosetoleranz bzw. über eine verringerte Insulinsensitivität.
Was bedeutet das?
- Der Blutzuckerspiegel steigt nach einer Mahlzeit stärker an als bei gesunden Kontrollpersonen (postprandiale Hyperglykämie)
- Insulin wird verspätet ausgeschüttet, dann aber verstärkt (latenter Hyperinsulinismus)
- der Blutzuckerspiegel bleibt trotzdem erhöht (Insulinresistenz)
Eine Insulinresistenz bedeutet, dass der Körper in Bezug auf Insulin die entsprechenden Signale nicht mehr richtig hört. Es ist mehr Insulin notwendig, um eine bestimmte Menge an Kohlenhydraten zu verstoffwechseln.
Ein großer Insulinausstoß führt in der Regel aber zu einem schnellen Absinken des Blutzuckers. Unterzuckerung (Hypoglykämie) tritt auf. Das Gehirn bekommt das Signal „es ist zu wenig Zucker im Blut“ und hat Angst zu verhungern. Es schickt also seinen Menschen auf die Suche nach Energie. Und was liefert sofort Energie? Richtig! Schnelle Kohlenhydrate. Wir sind gefangen in einem Teufelskreis.
Migräne und Insulin
Können Menschen Kohlenhydrate nicht adäquat verarbeiten, dann führt eine kohlenhydratreiche Ernährung zu häufigen Unterzuckerungen.
Eine Schlüsselrolle bei Blutzuckerschwankungen spielt das Insulin. Untersuchungen5Kokavec A. Migraine – A disorder of metabolism? Medical Hypotheses, 2016, volume 97, 117 – 130 konnten nachweisen, dass Migräne-Betroffene verstärkt unter Unterzuckerungen leiden. Eine Ernährung reich an Kohlenhydraten ist bei uns im Westen leider die normale Ernährungsweise.
Es ergeben sich deshalb Situationen, die (chronische) Migräne begünstigen können:
Zeitweiser Energiemangel
Die nicht optimale Verstoffwechselung der Kohlenhydrate kann zu einem Energiemangel im Gehirn führen. Deshalb ist das Gehirn der Betroffenen oft überfordert. Vor allem, wenn es Situationen ausgesetzt ist, die mehr Energie benötigen.
Überlastung der Hormonsysteme
Der gesunde Blutzuckerspiegel liegt in einem ganz engen Rahmen. Der Körper muss deshalb Extremzustände wie zu wenig und zu viel Glukose im Blut immer regulieren.
Daher ist der Organismus gezwungen mit einer verstärkten Ausschüttung von Stresshormonen gegenzusteuern. Passiert dies über mehrere Jahre, dann können Hormondrüsen wie Nebennieren oder Bauchspeicheldrüse erschöpfen. Dieses hat fatale Folgen für die Energieversorgung der Zellen und das allgemeine Wohlbefinden.
Außerdem ist das ein permanenter Stress für den Körper. Eine chronische Migräne kann sich entwickeln. Aber auch Herzrasen, schlechter Schlaf, Bluthochdruck und Depressionen sind häufige Begleiterscheinungen.
Ein Ausweg aus dem Insulin-Teufelskreis mit all seinen Konsequenzen besteht dann logischerweise darin, wenig(er) Kohlenhydrate zu essen. Womit wir zu den verschieden stark ausgeprägten Low Carb (kohlenhydratreduzierten) Diäten kommen.
Hilft eine kohlenhydratreduzierte Ernährungsweise gegen Migräne?
Welche Low Carb Ernährungsarten gibt es und was haben sie für Auswirkungen auf die Migräne?
Paleo-Ernährung bei Migräne
Die Paleo-Ernährung ist nicht per se eine Low Carb Diät. Das Paleo-Prinzip besagt, dass unsere heutige Ernährungsweise zu stark von einer natürlichen Ernährungsform abweicht und deshalb zu Übergewicht und Krankheiten führen kann.
Es wird eine Ernährung wie zu Zeiten des Urmenschen propagiert. Der Schwerpunkt liegt deshalb bei natürlichen Lebensmitteln wie Gemüse, Obst, Fleisch, Fisch, Eiern, Nüssen, Samen, (natürlichen) Fetten und Kräutern.
Da auf der anderen Seite Getreide (-produkte), Zucker und Hülsenfrüchte nicht gegessen werden, fallen die kohlenhydratreichen Nahrungsmittel weg. Die Paleo-Ernährung ist also gut für Migräniker geeignet, da hier Blutzucker- und Insulinspiegel niedrig bleiben und Stress durch Blutzuckerschwankungen reduziert wird.
LCHF Ernährung bei Migräne
Die LCHF (low carb high fat) Diät ist eine Ernährungsform mit wenig Kohlenhydraten und reichlich gesunden Fetten. Die schwedische Ärztin Annika Dahlqvist und ihr Landsmann Sten Sture Skaldeman machten die Diät publik.
Sie wollten zeigen, dass die weitverbreitete Angst vor natürlichem Fett unbegründet ist. Darüber hinaus wollten sie die Menschen für eventuelle schädliche Folgen eines ständig erhöhten Kohlenhydrat-Konsums sensibilisieren.
LCHF besteht aus 3 Regeln:
- Weniger Kohlenhydrate: hier wird vor allem auf Gemüse und Beeren zurückgegriffen.
- Mehr gesunde Fette: an die Stelle der Kohlenhydrate treten gesunde und natürliche Fette – die Proteinmenge ist moderat.
- Hohe Qualität: natürliche, unverarbeitete Lebensmittel bevorzugt aus ökologischem Landbau und artgerechter Tierhaltung.
Je nach täglich „erlaubter“ Kohlenhydrat-Menge gibt es verschieden strenge Formen von LCHF. Die Vorteile der moderaten Form sind in Hinblick auf Migräne analog zur Paleo Ernährung. Insulin- und Blutzuckerspiegel bleiben niedrig. Blutzuckerschwankungen fallen gering aus und reduzieren Stress. In seiner strengsten Ausprägung ist LCHF ketogen.
Ketogene Ernährung bei Migräne
Die ketogene Ernährung ist die strengste Form der Kohlenhydrat-Beschränkung. Sie ist dadurch definiert, dass der Körper in der Leber verstärkt kleine Moleküle, die sogenannten Ketonkörper, bildet. Die Ernährung ist also Ketonkörper-generierend (ketogen).
Merkmale einer ketogenen Ernährung:
- Sehr geringer Kohlenhydratanteil
- Minimale Insulinausschüttung
- Verstärkte Fettverbrennung
- Verstärkte Produktion von Ketonkörpern
Ketonkörper werden aus Fettsäuren gebildet und dienen u.a. als (Ersatz-) Brennstoff. Die weitverbreitete Annahme, dass das Gehirn nur Zucker verstoffwechseln kann, stimmt nämlich nicht. Es kann Ketonkörper hervorragend als Energie verwenden. Für diese gibt es sogar einen eigenen Transporter.6https://www.uniprot.org/uniprot/P53985
Wie hilft eine kohlenhydratreduzierte Ernährung gegen Migräne?
Die obigen Low Carb Ernährungsformen wirken verschieden auf die Migräne. Bei der Reduktion von (einfachen) Kohlenhydraten kommt die positive Wirkung auf die Migräne vor allem durch einen stabilen Blutzuckerspiegel.
Dieser sorgt einerseits dafür, dass Unterzuckerung und somit temporäre Energiedefizite nicht mehr auftreten und so dem Gehirn immer ausreichend Energie zur Verfügung steht.
Und andererseits führen weniger Blutzuckerschwankungen zu einer Beruhigung des Hormonsystems. Unser Körper ist viel weniger gestresst, weil er nicht mehr ständig gegen regulieren muss und dadurch Energie spart.
Bei der ketogenen Ernährung kommen weitere Vorteile hinzu
- Wir werden metabolisch flexibel. Unser Körper lernt bei sehr geringem Kohlenhydrat-Angebot auf den Fettstoffwechsel zuzugreifen.
- Da unsere körpereigenen Kohlenhydrat-Speicher sehr begrenzt sind, unsere Fettspeicher hingegen mehrere Wochen reichen, steht immer ausreichend Energie zur Verfügung.
- Das Gehirn nutzt die Ketonkörper als alternative Energiequelle. Bei Migränebetroffenen konnte in Hirn-Scans eine verminderte Zuckerverwertung gezeigt werden.7Kim JH et al. Interictal metabolic changes in episodic migraine. Cephalalgia, 2010; 30; 53 – 61 Gibt es ein Problem mit dem Glukosestoffwechsel, dann können alternativ Ketonkörper verwendet werden.
- Ketonkörper wirken außerdem antientzündlich. Bei Migräne wird auch eine entzündliche Ursache vermutet.
Was hilft wirklich gegen Migräne? Low Carb Ernährung als Therapie
Die herkömmliche Behandlung der Migräne ist für die meisten Menschen weitgehend unbefriedigend. Hingegen weisen immer mehr Studien auf einen Zusammenhang mit dem Stoffwechsel hin. Aus diesen Gründen ist es mehr als sinnvoll sich bei Migräne mit der Ernährung zu beschäftigen.
Wichtig ist es, Kohlenhydrate langsam zu reduzieren, Geduld zu haben und sich bei Bedarf professionelle Unterstützung von Ernährungs-Coachs zu holen, die sich auf Migräne spezialisiert haben.
Einzelnachweise
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