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Wir Menschen sind schon „seltsame“ Geschöpfe. Auf der einen Seite versuchen wir alles richtig zu machen. Wir versuchen die perfekte Ernährung. Wir motivieren uns, für die beste Art der Bewegung. Und wir studieren Konzepte um Konzepte, um uns mehr Know-How hinsichtlich Körper, Geist und Seele anzueignen. Und doch sind viele von uns selten sehr glücklich, obwohl wir eigentlich „alles“ wissen. Stattdessen fühlen sich viele manchmal leer. Unverstanden. Versinken in Einsamkeit. Manchmal sogar, reagieren wir auf solche Gefühle mit körperlichen Symptomen, die erst einmal ziemlich unverständlich sind.
Vermutlich ist diese gefühlte Kehrseite unseres konzeptionellen Wissens deswegen oft so betrübend, da wir nicht verstehen, was in solchen einsamen Momenten mit uns passiert. Wie wir die Dinge einzuordnen haben.
Oder auf die aktuelle Zeit im Corona-Frühjahr 2020 gemünzt: Es scheint tatsächlich einfacher, die Gefährlichkeit eines neuen Virus annähernd abzuschätzen, als die komplexen Folgeerscheinungen der Maßnahmen, die gesellschaftlich, sozial und individuell in solchen Ausnahmesituationen damit einhergehen.
Wir haben uns daran gemacht, genau an dieser Stelle dennoch nicht Halt zu machen. Denn nicht nur die Folgeerscheinungen von Corona wirken auf uns. Auch befinden wir uns in einer gestressten Zeit, die sich aktuell an Themen wie Rassismus, Gleichberechtigung und persönlicher Freiheit aufreibt.
Lasst uns einen wissenschaftlich-sozialen Blick auf die Schattenseite genau dessen Terrains riskieren, auf dem „eigentlich“ unmessbare, weiche Themenbereiche von Angst, Einsamkeit und persönliches Selbstbewusstsein oft gar keinen Platz haben.
Einsamkeit: Eine weit unterschätze Gefahr
Seit einigen Jahren befinden wir uns in der westlichen Welt in einem Hype der Einzigartigkeit. Die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, die Freiheit überall hin zu reisen und durch die Fortschritte des Internets fast alles individuell erreichen zu können, tragen eine Überschrift: „Ich.“
Was wir dabei oft vergessen, ist der Umstand, dass diese enorme Form von Individualität biologisch gar nicht so in uns verankert ist. Noch viel schlimmer: Sie kann uns ziemlich zusetzen und krank machen.
Evolutionsforscher und Experimentalpsychologen sind sich weitestgehend einig: Der Mensch ist immer noch ein Herdentier. Und dies ist auch leicht zu verstehen. In einer Zeit, in der das Mammut um die Ecke lauerte und Menschen der rauen Natur mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert waren, war das Agieren in einer Gruppe von Menschen sicherlich nicht nur angenehmer, sondern sogar überlebensnotwendig.
Auch Dinge wie die Fortpflanzung und die Fähigkeit zu kommunizieren zeugt ganz allein schon davon, dass wir als Mensch in einem naturgegebenen Korsett aus Kooperation eingebettet sind, in dem wir einander brauchen. Und das uns ein radikaler Ausstieg aus diesem System nicht gut tut, zeigen mittlerweile auch viele Studien.
Einsamkeit macht krank: Die Studienlandschaft
Im folgenden findest du wichtige Studien, die den Zusammenhang zwischen körperlichen Symptomen und Einsamkeit klar aufzeigen.
1. Einsamkeit ist ähnlich gefährlich wie ein ungesunder Lebensstil
Eine Studie aus dem Jahre 2010 zeigt folgendes: Menschen, die in sozialer Isolation leben, haben ein ähnliches Risiko, früher zu sterben wie Menschen, die regelmäßig Alkohol und Nikotin konsumieren.
Zudem haben die sozial isolierten Menschen ein größeres Krankheits-Risiko-Profil, als übergewichtige Personen und Diabetiker.1Social Relationships and Mortality Risk: A Meta-analytic Review
2. Einsamkeit ist wie physischer Schmerz
Wenn wir physischen Schmerz erleiden, werden gewisse Areale in unserem Gehirn aktiviert. Diese Areale lassen sich gut messen. Eine Studie aus dem Jahre 2003 hat festgestellt, dass bei sozialer Isolation genau die gleichen Areale angesprochen werden wie bei physischem Schmerz.2Does Rejection Hurt? An FMRI Study of Social Exclusion
3. Soziale Isolation lässt unser Immunsystem herunterfahren
Eine chinesische Studie beabsichtige, 10 Männer für 150 Tage von der Außenwelt zu isolieren. Die Folge war ein ungesunder Anstieg des Stresshormons Cortisol sowie negative Langzeitveränderungen von Botenstoffen, die in enger Abhängigkeit mit der Immunabwehr des Körpers stehen.
Die negativen Auswirkungen wurden schon 30 Tagen nach der Isolation beobachtet und hielten nach Beendigung des Experiments weitere 150 Tage an.3Chronic grouped social restriction triggers long-lasting immune system adaptations
Überhaupt geht die Forschung derzeit davon aus, dass Einsamkeit und soziale Isolation aus rein biologischer Sicht zu Stressreaktionen führen.
Während ein Kleinkind beispielsweise offensichtlich gestresst reagiert, sobald es seine Mutter beim Einkaufen verliert, ist dieses Muster in erwachsenen Menschen hinsichtlich der sozialen Umgebung immer noch latent veranlagt.
Dabei wissen wir, dass Stress mit Hunderten von Symptomen in Verbindung gebracht wird und mittlerweile als eine Hauptader von Krankheiten gilt.
In diesem Artikel findest du übrigens eine genaue Herleitung von Stress und was du dagegen tun kannst.
Einsamkeit und Virusanfälligkeit: Eine Brücke
In einer weiteren wissenschaftlichen Arbeit wurden mehr als 300 Studien und Fachartikel zum Thema psychologischer Stress in Verbindung mit dem Immunsystem analysiert.4Psychological Stress and the Human Immune System: A Meta-Analytic Study of 30 Years of Inquiry
Eines der Ergebnisse war, dass chronischer psychologischer Stress sich auf unser gesamtes Immunsystem auswirkt, sprich auf das zelluläre wie auch auf das humorale Immunsystem. Die zelluläre Immunabwehr erfolgt dabei durch Zellen, insbesondere sogenannte T-Lymphozyten und bei der humoralen Immunabwehr sind Antikörper beteiligt. Beide Bereiche spielen eine essentielle Rolle in der Abwehr von Krankheitserregern – wie zum Beispiel Viren.
Wenn Isolation und Einsamkeit nun also chronischen Stress in uns auslösen, können wir schlussfolgern, dass dadurch unser Immunsystem heruntergefahren wird und die Abwehr von (Corona-)Viren dadurch erschwert wird.
Auch das Gegenteil trifft zu
Wenn soziale Isolation zu einer größeren gesundheitlichen Anfälligkeit führt, kann soziale Interaktion dann die Lage auch verbessern? Mit großer Sicherheit lautet die Antwort: Ja.
All dies wurde in mehreren Studien wissenschaftlich fundiert dargestellt.5Social Support and Health: A Review of Physiological Processes Potentially Underlying Links to Disease Outcomes T-Zellen, welche für die Immunabwehr wichtig sind, erhöhen sich. Stresshormone sinken. Akute Entzündungsreaktionen wirken schnell, chronische werden hingegen abgepuffert.
In Conclusio unterstreichen diese Ergebnisse also, dass wir Menschen Herdentiere sind und nur mit einem entsprechenden Gemeinschaftsgefühl richtig funktionieren können.
Das lokale Weltbild: Die Wurzel aller Probleme
Wenn wir der Frage nachgehen wollen, warum wir einsam sind, müssen wir tiefer graben. Denn gleichzeitig scheint es, dass in der Antwort auf diese Frage vielleicht noch viel größere Zusammenhänge verborgen sind.
Denn während ich diese Zeilen schreibe, finden zur Zeit in der ganzen Welt extreme Proteste statt, ausgelöst durch Polizeigewalt gegen Schwarze. Die Menschheit ist in Aufruhr und positioniert sich.
Rassismus, Medizin, freie Meinungsäußerung sind die Themen, die die Welt zur Zeit umtreibt. Du fragst dich jetzt vielleicht, was das mit dem Thema der Einsamkeit zu tun hat? Die Antwort ist denkbar klar: Womöglich viel mehr als du glaubst.
Unsere Ideen sind ein Mythos
Der renommierte Soziologe Prof. Dr. Andres Reckwitz, Autor des aktuellen Buches „Das Ende der Illusionen: Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne„Amazon spricht in seinem aktuellen Werk darüber, dass die Unterschiede in einer Bevölkerungs-Mittelschicht gar nicht mal so sehr am Einkommen festzumachen sind, sondern eher in den kulturellen Fragen.
Wir erleben Menschen, die faktisch ähnlich verdienen und alt sind, doch in völlig verschiedenen Sphären leben. Darunter fallen sprachliche Barrieren inmitten von Großstädten. Unterschiedliche politische Auffassungen zwischen ländlicher und urbaner Bevölkerung. Oder allein die kontroversen Lager zu medizinischen Fragen, wie das Thema Impfpflicht.
Worauf möchte ich hinaus? Wir alle sind mehr oder weniger ein Produkt unserer Erziehung und Sozialisierung. Rein zufällig bist du wahrscheinlich in Mitteleuropa aufgewachsen. Genauso gut hättest du aber auch als 10. Kind in Indien oder als reicher Sultan in der arabischen Welt oder inmitten eines Naturvolkes im Amazonas geboren werden können.
Durch die Art und Weise wie wir aufgewachsen sind – und vor allem durch die Umgebung, in derer dies geschehen ist, sind wir anders. Wir haben gewisse kulturelle Werte und Erfahrungen gemacht, zwischenmenschliche Gewohnheiten gepflegt und natürlich eine Menge an Glaubenssätze übernommen. So glauben die einen an den einen Gott, die anderen an einen anderen und andere glauben an gar keinen Gott.
Für manche Menschen ist aufgrund ihres Glaubens-und Wissenkorsettes die Schulmedizin die einzige Instanz, die zählt. Für andere, sind alternativere Formen besonders wertvoll. Dies führt natürlich dazu, dass es eine Menge an unterschiedlichen Standpunkten und Meinungen gibt, von denen wir vor allem in der aktuellen Corona-Zeit wohl alle ein Lied von singen können.
Menschen haben unterschiedliche Glaubensauffassungen zum Thema Ernährung, Humor oder selbst in der Frage, wie sie sich kleiden.
Gleichheit schafft Trennung
Diese gefühlte Identität, die mit ganz spezifischen von Ort-zu-Ort verschiedenen Meinungen, Mustern und Merkmalen einhergeht, erschafft zwei Dinge:
- Auf der einen Seite fühlen wir uns mit ähnlich tickenden Menschen wohl. Wir identifizieren uns.
- Auf der anderen Seite kann uns die Andersartigkeit von „Anderen“ stark irritieren.
Wenn diese zweitgenannte Schattenseite unseres Identitätsgefühls überhandnimmt, haben wir ein Problem. Denn dann geht es oft nur noch darum „Recht zu haben“.
Menschen, die ihr Lebensmodell für allgemeingültig halten, haben oft keine Lust, sich auf Gespräche einzulassen – einen argumentativen Konsens und die Grautöne zu finden, anstatt das Schwarz-Weiß-Denken zu propagieren.
Für diese Menschen können selbst die am weitesten hergeholten Verschwörungstheorien tägliche Realität sein. Sie befeuern Kriege, indem sie denken, dass „ihr“ Gott besser ist, als ein anderer. Und in der perfidesten Form aller Gedanken, halten sie ihre Hautfarbe und Herkunft für wertvoller als eine andere.
Unsere Einsamkeit ist ambivalent
Das Gefühl der Einsamkeit und unsere gefühlte Verbindung zu anderen ist also ambivalent. Auf der einen Seite geben unsere kulturellen Werte und Glaubenssätze ein sozial einbettendes Gemeinschaftsgefühl zu ähnlich geprägten Menschen.
Doch wenn wir an dieser Stelle nicht aufpassen und denken, dass dies „besser“ ist als andere Lebensentwürfe, werden wir intolerant. Wir zetteln Widerstände an. Und beginnen, aus zum Teil menschenverachtenden Gründen, gegeneinander zu kämpfen.
Und genau diese Einstellung des Recht-Haben-Wollens, birgt das Gefühl der Einsamkeit bereits mit sich.
Was können wir tun?
Wenn du mit Haltung und einer gleichzeitigen uneinsamen Offenheit anderen gegenüber auf diesem Planeten bestehen möchtest, kannst du folgende Dinge tun:
1. Kultiviere offene Klarheit
Deinem Selbstbewusstsein tut es gut, zu wissen wer du bist und was dich ausmacht. Was sind deine Werte? Wofür stehst du? Wo ziehst du eine rote Linie?
Es hilft tatsächlich, dich einmal ein paar Tage hinzusetzen und niederzuschreiben, nach welchen Leitlinien du dein Leben vollziehen möchtest. So gibst du den Menschen um dich herum einen Fixpunkt, als auch dir selbst.
Auf der anderen Seite ist es sehr entspannend, deine Meinung und deinen Standpunkt nicht für „die absolute Wahrheit“ zu halten. Denn dann wirst du dich mit Sicherheit ein Leben lang aufreiben und so ständig Streit mit deinem Umfeld anzetteln. Und das kann auf Dauer ziemlich einsam machen.
Mache deine Haltung tolerant und friedvoll deutlich. Doch lass auch dem anderen seine Meinung und Haltung, insofern diese nicht die Freiheit eines anderen verletzt. So entstehen konstruktive Gespräche und ehrliche Verbindungen zwischen Menschen
2. Sondiere dein Umfeld in Ehrlichkeit
Hast du dich schon einmal gefragt, warum Menschen wirklich einsam sind? Vielleicht liegt es oft daran, dass wir nicht ehrlich zueinander sind. Das wir in der Tiefe gar keine große Lust mehr auf Person XY haben und wir nur aus Nettigkeit, dem monatlichen Kaffeeplausch einwilligen.
Und auf der anderen Seite gibt es vermutlich Menschen, in deren Nähe wir uns gut fühlen. Obwohl wir manchmal gar nicht wissen warum. Und wir uns daher gar nicht trauen, noch mehr Nähe zu suchen und uns offen mit unseren Wünschen zeigen.
Probiere aus, wie es sich anfühlt, wenn du mehr „echte“, präsente Zeit mit Menschen verbringst, die dir gut tun. Und dich ehrlich von den Menschen verabschiedest, die es nicht tun. Oder ihnen zumindest deine Wahrheit offen teilst, damit sich eine tiefere Verbindung zwischen euch ergeben kann.
Denn eines ist klar – in den zitierten Studien, geht es nicht darum, dass du nie allein sein sollst. Alleinsein ist ein Zustand, der jeden von uns von Zeit zu Zeit seelisch als auch körperlich nähren kann.
Es geht um das reine Gefühl von Einsamkeit, welches negativ wirkt. Und dieses Gefühl kannst du auch dann haben, wenn du jeden Tag mit 20 Menschen zu tun hast, mit denen du dich aber nicht wirklich verbunden fühlst.
Also: Wer sind deine Leute? Und wissen die das bereits?
3. Sei kein einsamer Hund
Wir alle kennen dieses Gefühl wohl. Zuhause uns einzukuscheln, einen Film anzumachen und die Welt mal Welt sein zu lassen. Das Problem daran nur: Man kann sich an diesen Zustand schrecklich schnell gewöhnen.
Denn auch mit Menschen in Kontakt zu kommen, diese besser kennen zu lernen und eine echte Verbindung erst einmal zu kreieren, kostet Überwindung. Die Energie, um raus zu gehen, sich frei und offen zu machen und ganz gelinde gesagt, einfach mal zu schauen, was passiert.
Denn das Leben ist unberechenbar. Wir wissen immer was wir aufgeben, doch nie was wir (an Menschen) in unser Leben ziehen.
Gib dem Leben also die Chance, dich zu überraschen. Sei kein einsamer Hund. Denn wir brauchen einander. Jetzt mehr, als je zuvor.
Einzelnachweise
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